Vom Schwäbischen Meer bis zur Adria

Liebe Oma,
ich fahre mit dem Fahrrad nach China! Jetzt im Moment! OK, gerade sitz ich am Laptop und schreibe dir, aber ich bin unterwegs nach Osten. Ich denke oft daran zurück, wie Du beim Verabschieden zu mir gesagt hast, dass du einen Strick dabei hast um mich festzubinden. Dann hast du verständnisvoll gelacht, wie du es immer tust, und ich bin kurz darauf losgeradelt. Die weite Welt hat dir nie so viel bedeutet, Opa ist da mehr der Abenteurer bei euch zwei. Du hast dich immer aufs Zuhause und besonders deine Enkel konzentriert, und ehrlich gesagt finde ich das auch ganz gut so 😉 Dass ich dir aber nicht zu sehr fehle, wenn ich jetzt auf der Seidenstraße rumradel, hab ich mir gedacht, ich erzähle dir einfach, was ich so erlebe.
Leicht gefallen ist das Abschiednehmen nicht. Dann aber rolle ich die Uferpromenade am Bodensee in Friedrichshafen entlang. Das Wasser ist spiegelglatt, die tief stehende Sonne hüllt alles in ein magisches Licht. Die ersten Kurbelumdrehungen einer tausende von Kilometern langen Reise. Der Gedanke daran fühlt sich seltsam an, denn noch ist alles so vertraut hier. Seit über 10 Jahren trage ich die Idee, die Seidenstraße mit dem Fahrrad zu bereisen, schon mit mir herum. Unzählige Male habe ich mögliche Routen studiert, habe Berichte und Artikel gelesen, Bilder betrachtet und bin in Gedanken irgendwo zwischen Zu Hause und China auf dem Fahrrad gesessen. Vieles hat sich seitdem geändert. Der arabische Frühling und der Syrienkrieg haben in diesen Regionen einige Passagen der Seidenstraße unpassierbar gemacht, und auch fast alle damals noch möglichen Teile Afghanistans sind heute nicht zugänglich. Auch wie ich unterwegs sein möchte, hat sich geändert. Wollte ich früher noch jeden Kilometer radeln, halte ich stupides Kilometer-Sammeln auf viel befahrenen Straßen mittlerweile ziemlich sinnlos. Lieber mehr Zeit für die Menschen haben, die man trifft, und lieber in entlegenen Gebiete auf kleinen, unwegsameren Pfaden unterwegs sein, ab und zu trampen um mehr Einheimische kennenzulernen oder mal ausprobieren wie sich die lokalen Busse und Züge so anfühlen. Aber die Idee direkt von meiner Haustüre zu starten und langsam die Veränderungen in Kultur und Lebensweise zu erleben, ist geblieben.
Ein letztes Mal schaue ich über den Bodensee, dann fahre ich Richtung Allgäu, meine alte Heimat. Ich besuche hier und da noch ein paar Freunde, Michael versucht meinen Billigflaschenhalter zu reparieren, den ich zur Taschenhalterung am Vorderrad umfunktioniert hatte, und der jetzt am zweiten Tag schon den Geist aufgegeben hat. Nach getaner Arbeit ist er immer noch skeptisch und schraubt kurzerhand seinen besseren Flaschenhalter von seinem Mountainbike ab und montiert ihn bei mir. Michael ist die letzten zwei Jahre nicht viel zum Fahren gekommen. „So kommt wenigstens mein Flaschenhalter nach China“, meint er grinsend.
Ich fahre über sanft geschwungene grüne Hügel auf denen Kühe grasen, und schlage nachts mein Zelt auf Weiden auf, die momentan nicht genutzt werden. Ich komme immer wieder an Orte, an denen ich schon einmal war und an die ich Erinnerungen habe. Je weiter ich nach Osten komme, wird das weniger werden. Ich passiere die erste Grenze nach Österreich und fahre auf versteckten Wegen durch die Ammergauer Alpen nach Garmisch-Partenkirchen. Dort lerne ich Tina und Rene kennen, zwei Outdoor-Enthusiasten, bei denen ich im Garten mein Zelt trocknen kann, das ich momentan morgens leider jeden Tag nass einpacken muss. Das gehört leider beim Reisen im Herbst mit dazu. Es gehören aber auch frische Äpfel mit dazu, die bei den beiden im Garten wachsen und die sie mir in rauen Mengen anbieten. Als ich meine Sachen packe, stopft Tina mir auch noch alles Mögliche aus ihrem Kühlschrank in die Packtaschen. Sie erzählt von ihren Reisen und würde am liebsten gleich mitradeln. Da sie noch eine Wanderung machen will, packen wir mein Fahrrad in ihren VW Bus und sie nimmt mich mit nach Scharnitz, von wo ich der Isar stromaufwärts tief ins Karwendelgebirge folge. Ich fahre durch einen farbenfrohen Herbstwald sanft bergauf und das Wetter könnte nicht besser sein. Trotzdem muss ich vorankommen, denn es naht eine Kaltfront, bei deren Eintreffen ich im Inntal sein möchte, statt hier hoch oben im Karwendel. Meinen ursprünglichen Plan über das Überschalljoch zu fahren, habe ich auf Anraten aller Einheimischen, die ich fragte, verworfen. Stattdessen hieve ich mein Rad den Wanderweg in Richtung Lafatscher Joch hinauf, eine steile Scharte mit Unmengen losen Gerölls . Ich mache einen Schritt, schiebe mein Fahrrad nach vorne indem ich die Arme vom Brustkorb wegschiebe, ziehe die Bremsen an und mache wieder einen Schritt…. Dabei rutsche ich bei fast jedem Schritt im losen Geröll wieder einiges zurück. Ich brauche ein Stunde für 200m, dann wird es einfacher. Die Aussicht am Joch entlohnt für die Mühen, und ich gönne mir zuerst mal eine Brotzeit. Essen habe ich ja gerade genug dabei 😉 Dann geht es in rasanter Fahrt steil ins Halltal. Ich entscheide mich für einen kleinen Singletrail, der vom Weg abzweigt, denn dafür bin ich ja mit dem Mountainbike unterwegs. Die anfangs grandiose Abfahrt wird immer tückischer. Zweimal stürze ich, einmal davon direkt auf meine Kamera. Zum Glück bleibt alles unversehrt. Dann bin ich hauptsächlich nur noch am bergab schieben, da der Trail im unteren Teil mit dem vielen Gepäck unfahrbar ist. Im Inntal komme ich bei Christine, einer Radlerin, unter, die mir ihre Zweitwohnung zur Verfügung stellt. Ich mache einen Pausentag und die Kaltfront bringt Schnee auf 800 m. Deshalb bleibe ich erstmal im Tal und folge dem Inntalradweg, der abwechselnd entlang der Autobahn und Bahnlinie gekonnt von Industriegebiet zu Industriegebiet gelegt wurde. Das Wetter wird nicht sonderlich besser und zu meiner Freude retten mich Georg und seine Frau in St. Johann in Tirol spontan vor einer Nacht im Regen und lassen mich in ihrem schön ausgebauten Dachboden übernachten. Durch den Schnee fällt das Überschreiten des Hauptkammes über einen Pass nun leider aus, und ich fahre durch das wunderschöne Gasteinertal und den Gasteinertunnel auf die Alpensüdseite. Jetzt noch ein Gebirgszug und ich bin in Slovenien. Man rät mir aber über Italien zu fahren, da der dortige Tarvispass ins Socatal schöner sei. Da ich mich ein klein wenig auf Marco Polos Spuren wandeln sehe, mache ich gerne einen Abstecher in sein Heimatland. Von dort überschreite ich die Grenze nach Slovenien und radle bald entlang des glasklaren Wassers der Soca Richtung Süden. In Nova Gorica steige ich dann in einen Zug Richtung Kroatien. Ich habe mir in den Bergen Zeit gelassen, aber das war gut so. Nun muss ich rechtzeitig an der Adria ankommen, da meine Freundin eine Woche zu Besuch kommt. In Illirska Bistrica steige ich wieder aufs Rad und passiere auf einer wunderschönen Straße im Hinterland Sloveniens die Grenze nach Kroatien. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich an einer innereuropäischen Grenze zweier EU-Staaten kontrolliert. Ein komisches Gefühl, denn in meiner Generation ist man so an das Zusammenwachsen Europas gewöhnt, dass man den Trend der letzten 2 Jahre gar nicht wirklich wahrhaben will. Ich fühle mich fast ein klein wenig meiner Rechte beraubt, die eigentlich doch offene Grenze einfach überqueren zu dürfen. Dann geht es bergab Richtung Meer. Ich erkunde ein paar unbefestigte Wege durch die Wälder und bekomme einen ersten Vorgeschmack davon, wie das Radeln im Dinarischen Gebirge sein wird: loses, scharfkantiges Geröll aus Kalkstein und eine Unmengen von Dornen. Dann schaue ich an der Uferpromenade von Rijeka auf das Glitzern der Sonnenstrahlen auf dem Wasser und genieße das Treiben in der Stadt um mich herum. Ich habe es vom Schwäbischen Meer über die Alpen bis an die Adria geschafft. Jetzt liegt der Balkan vor mir, mit dem größten Karstgebiet der Erde und unzähligen Wegen, dies zu durchqueren. Aber jetzt werde ich erstmal meine müden Knochen erholen.
Liebe Grüße an Opa
Dein Thomas